
A.2

Ankunft
Ausgeliefert oder gerettet?
Die Kriegsgefangenschaft bedeutete für einen Soldaten das Ende der unmittelbaren Lebensgefahr durch Kampfhandlungen. Ob er dann Chancen hatte, den Krieg als Gefangener zu überleben oder ob er durch die Terrormaßnahmen der Nationalsozialisten doch noch zu Tode kam, hing vor allem von seiner Nationalität und „Rasse“ ab.
Nation und „Rasse“ als Kategorien für das Überleben – die unterschiedliche Behandlung der Gefangenen
Je nach Nationalität und Kategorisierung entsprechend der „Rassenlehre“ der Nationalsozialisten war die
Situa tion für die Gefangenen im Stalag höchst unter-schiedl ich. Viele sowjetische Soldaten überlebten unter anderem wegen schlechter Versorgung und Miss-handlungen die Gefangenschaft nicht. Dagegen star ben kaum Briten und Amerikaner. Einen Sonderfall stell ten jüdische Gefangene dar. Für sie konnte die Gefan-genschaft die Rettung vor dem Holocaust bedeuten.
Auch wenn jeder Gefangene die Gefan gen schaft anders erlebte, bedeuteten die Ankunft und die Aufnahme in das Stalag doch für alle die Unterwerfung unter ein fremdes System, das dem Einzelnen wenig Freiraum und Entscheidungsmöglichkeiten gewährte.

Zitat:
Die Reihen von düsteren, ungestrichenen, gedrungenen Gebäuden, die unsere Unterkünfte werden sollten, schienen sich […] bis zum Horizont zu erstrecken. Sie erinnerten uns alle an Zuhause, Familien und Jobs, die wir zurückgelassen hatten.
Robert Reeves, US-Soldat
(Reeves R., We arrive at Stalag VII A, abgerufen von Moosburg.org am 06.02.2025)
A.2.1

Registrierung und Entlausung
Die Aufnahme ins Stalag
Bei der Ankunft im Lager wurde jeder Gefangene registriert. Er erhielt eine Nummer, die auch auf seiner Erkennungsmarke eingeprägt war und die ihn während der gesamten Gefangenschaft begleitete. Außerdem wurden seine persönlichen Daten, insbesondere der Beruf, in eine Karteikarte eingetragen. Dann folgte die Entlausung, die Gefangenen duschten und ihnen wurden die Haare geschoren.
Zitate
In diesem Lager wurde bereits eine vollständige Registrierung durchgeführt. Jeder wurde mit seiner Nummer fotografiert. Ich erhielt Nr. 1029.
Josef Reznik,
polnischer Gefangener; Vernehmungsprotokoll, Yad Vashem Archives 0-33/294
Wir wurden ausgezogen und entlaust, eine völlig neue Erfahrung für uns. […] Es gab Zeiten, da hatten wir den Eindruck, die menschliche Würde zu verlieren. Die Erfahrung beim Duschen ist ein ganz gutes Beispiel dafür.
James Mc Clelland,
US-Gefangener; Mc Clelland J., Name, Rank and Serial Nummer, Bloomington/Indiana 2005,
S. 52, 89
Bevor wir einer Baracke zugeteilt wurden, bekam jeder von uns ein paar Minuten unter der warmen Dusche. Eine weitere kleine Freude im Leben.
Leslie Tyler, US-Gefangener; Tyler L., Wild Blue Yonder, Grawn/Michigan 1992, S. 102
Im Lager waren die Gefangenen demütigenden Erfahrungen ausgesetzt. Wie das hier abgebildete Foto zeigt, kam es vor, dass sowjetische Kriegsgefangene unbekleidet auf die Entlausung warten und sich im vorliegenden Fall sogar fotografieren lassen mussten.
Da die Würde der Betroffenen auch nach dem Tod gewahrt und wieder hergestellt werden soll, ist die Verwendung derart diskriminierender Bilder in Ausstellungen umstritten.
Wir haben uns trotzdem dazu entschlossen, eine solche Aufnahme zu zeigen, denn sie dokumentiert beispielhaft die Übergriffigkeit des Lagerpersonals einerseits und die Wehrlosigkeit der Gefangenen andererseits. Außerdem führt das Foto vor Augen, in welch schlechter Verfassung sowjetische Gefangene zumindest zeit weise im Lager ankamen.

Die Sinnlosigkeit der Entlausung
Original-Bild von Bertrand, Abdruck von Fronval und Fotos aus dem Stalag VII A


Läuse – eine permanente Plage:
- Jacques Bertrand, „les poux!“ („Die Läuse“), 1940
- Durchsuchen der Kleidung nach Ungeziefer, Foto (Repro)
- Entlausung der befreiten US-Amerikaner mit DDT, Foto (Repro), 1945
- Georges Fronval, „chasse réservée“ („Reserviertes Jagdrecht“; Repro)
Stadtarchiv Moosburg


A.2.2

links, innerhalb des Lagers ein Gefangener, außerhalb ein Wachsoldat
StadtA Moosburg: S-SON, Stalag; FOT-Alb Schmid Bd. 1
Bewachung
Fremdbestimmung und Eigeninitiative
Für Leitung, Verwaltung und Betrieb eines „Standard-Lagers“ mit 10.000 Gefangenen sah der Personalplan der Wehrmacht 98 Soldaten sowie 33 Militärbeamte und –Angestellte vor. Bewacht wurden die Gefangenen von Landes schützen, also älteren oder gesundheitlich eingeschränkten, nicht fronttauglichen Soldaten. Diese waren von der Wehrmacht zur Bewachung abkommandiert worden. Der Bewachungsschlüssel lag bei einem Landesschützen auf zehn Gefangene.
Innerhalb des Lagers organisierten sich die Gefangenen teilweise selbst. So gab es Barackenälteste, die die einzelnen Baracken leiteten, und eine Lagerpolizei, die aus Gefangenen bestand und ein geregeltes Zusammenleben im Lager sicherstellen sollte. Gewählte Vertrauensleute vertraten die Interessen der Gefangenen gegenüber der Lagerleitung. Dies eröffnete den Gefangenen Freiräume, zum Beispiel bei der Freizeitgestaltung.
Die Wachen im Stalag VII A waren entweder sehr jung oder übermäßig alt. Sie waren für den Dienst an der Front nicht geeignet […] Die meisten Wachleute versuchten, die Gefangenen fair zu behandeln, zumindest Amerikaner und Briten. Die Russen, so erzählte man uns, würden nicht fair behandelt.
James McClelland,
US-Gefangener; Mc Clelland J., Name, Rank and Serial Number, Bloomington/Indiana 2005,
S. 55
Am Dienstag ereignete sich eine sinnlose Tragödie in einer benachbarten Abteilung. Ein fanatischer Wachsoldat schoss einem schwarzen Gefangenen in den Kopf, nur weil er schwarz war. Die Bemerkungen, die ich von einigen Jungs in unserer Abteilung höre, regen mich auf. Ich denke, ich habe ein ziemlich behütetes Leben geführt, was rassische Vorurteile anbelangt.
Robert Jackson,
US-Gefangener; Jackson R.,
A Wartime Prison Camp Log, USA 2004, S. 121
A.2.2

StadtA Moosburg: S-SON, Stalag; BIL Gerval 05

StadtA Moosburg: S-SON, Stalag; BIL Bertrand 12
Stalag-Kunst über Bewachung
Original-Bilder von R. Gerval und Jacques Bertrand
Original: Stacheldraht vom Stalag

A.2.3
Józef Reznik
Dem Tod entronnen
Józef Reznik (1912-1990) stammte aus Grodno. Von Beruf war er Metzger wie sein Vater. Der polnische Soldat geriet bereits am 12. September 1939 in Kriegsgefangenschaft und wurde über ein Durchgangslager in das Stalag VII A verlegt. Dort gehörte er zur Gruppe der ersten 1.400 Kriegs-gefangenen, die am 19. Oktober 1939 ankamen.
Er erhielt die Nummer 1029 und auf seiner Personalkarte den Vermerk
„Jude“ neben der Staatsangehörigkeit „Polen“. Vom 22. Oktober bis 11. November 1939 war er auf dem Gut Hollern (zwischen Eching und Unterschleißheim) eingesetzt.
Über zwei weitere Lager, nämlich das Stalag XVII B Krems-Gneixendorf
(Niederösterreich) und das Stalag VIII A Görlitz (heute an der Grenze zu Polen), kam Reznik als polnischer Jude Anfang 1941 in das Arbeitslager „Lipowa 7“ in Lublin (Polen). Von dort aus musste er beim Bau des Lagers Majdanek vor den Toren Lublins mitarbeiten.
Die zynisch mit dem Decknamen „Aktion Erntefest“ bezeichneten Massenerschießungen, bei denen am 3. und 4. November 1943 insgesamt mehr als 43.000 Juden zu Tode kamen, betrafen Reznik unmittelbar. Zusammen mit rund 18.000 anderen in Lublin zusammengetriebenen Juden wurde er gezwungen, in das KZ Majdanek zu marschieren, wo die Erschießung stattfinden sollte.
Während er auf den eigenen Tod wartete, wurde er so zum Zeugen des Geschehens: „Wir kamen auf das Feld V [einen besonderen Bereich des Lagers], wo die ganze Zeit auf der einen Seite ein Orchester spielte, und auf der anderen spielten die Maschinengewehre, massenhaft die Ankommenden erschießend. Einer der Deutschen führte noch eine Selektion durch, die 300 gesündesten, kräftigsten Männer und 300 Frauen heraus-nehmend.“


Diese Selektion rettete dem Mann in Majdanek in letzter Minute das Leben. Er wurde damit dem „Sonderkommando 1005“ zugeteilt und mit dem Bus nach Borki bzw. den Borek-Wald bei Chelm gebracht.
A.2.3
Józef Reznik
Flucht in ein neues Leben
Im Wald von Borek musste Józef Reznik auf Befehl der SS zusammen mit seinen Schicksalsgenossen Leichen ausgraben und verbrennen. Was von den Toten übrig blieb, wurde in Knochenmühlen zermahlen und verstreut, um so alle Spuren der NS-Verbrechen zu tilgen. Reznik und seinen Mitgefangenen war klar, dass nach Abschluss dieser Aufgabe auch sie selbst doch noch ermordet werden würden. Deshalb gruben die Männer von dem Erdbunker aus, in dem man sie aneinander gekettet festhielt, einen Fluchttunnel. Am 24. Februar 1944 gelang es Reznik, die Ketten von zehn Männern aufzubrechen. Vier davon, darunter Reznik, vermochten erfolgreich zu fliehen und so ihr Leben erneut zu retten.
Ein Priester und später Freunde kümmerten sich um ihn. Schließlich versteckte ihn die am Stadtrand von Lublin wohnende Witwe Stefania Bojarska (1896-1989). Nach einigen Monaten schloss sich Reznik im Juni 1944 dem polnischen Guerilla-Widerstand an und kehrte nach der Befreiung Lublins erneut dorthin zurück. Er wurde von einem polnisch-sowjetischen Untersuchungsausschuss zu den Verbrechen in Majdanek verhört und nahm an einer Ortsbesichtigung in Borki teil.
1945 heiratete er Nina Herszman (1921–2003). 1948 ließ sich das Paar in Israel nieder. Im Prozess gegen den „Organisator des Holocaust“ Adolf Eichmann sagte Reznik als Zeuge der Anklage aus.
Bei der Verleihung des Titels „Gerechte unter den Völkern“ an Stefania Bojarska im Jahr 2015 überreichte Rezniks Sohn Yaacov (*1947) ihrer Enkelin Jolanta Kopczyńska einen Sack Orangen als symbolisches Zeichen seiner Dankbarkeit.


